"Wir wollen Mädchen und junge Frauen stark machen für die Zukunft"
In den Flüchtlingscamps im Libanon und Syrien leben Hunderttausende syrische Flüchtlingskinder in provisorischen Zeltstädten ohne Zugang zu Bildung und Perspektiven. Jacqueline Flory baut mit ihrem Verein Zeltschulen für diese Flüchtlingskinder. Mittlerweile gibt es 30 davon, die täglich von 7000 Kindern besucht werden. Aber der Verein baut nicht nur Schulen, sondern hilft den Familien in allen Notlagen. Um Frauen und junge Mädchen, die in den Camps besonderen Schutz und Förderung brauchen, stark und unabhängig zu machen, unterstützt Sternstunden den Zeltschule e.V. Jacqueline Flory erzählt im Interview, wie der Alltag in den Flüchtlingscamps aussieht.
Projekt Steckbrief
Projektdurchführung | Zeltschule e.V. Holzstraße 43 |
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Aktionsjahr | 2021 |
Ort | Libanon, Bekaa |
Fördersumme | 56.150,00 € |
Bildergalerie
Interview mit Jacqueline Flory, Gründerin Zeltschule e.V.
Frau Flory, sie waren schon zahlreiche Male in den Flüchtlingscamps im Libanon, auch dieses Jahr Ostern und Pfingsten, wie ist die aktuelle Lage dort?
Im Libanon wird die Lage immer schlimmer. Der Staatsbankrott hat zu einer Hyperinflation geführt, viele Verbrauchsgüter werden unerschwinglich. Auch Strom gibt es im ganzen Land nur noch stundenweise, Benzin ist streng rationiert. Das alles macht unsere Arbeit nicht leichter, denn unsere Geflüchteten sind darauf angewiesen, dass jede Woche ein Lebensmittellaster kommt und sie mit dem nötigsten versorgt.
Wie helfen sie den Kindern und Familien in den Camps?
Um die Kinder vor Kinderarbeit zu schützen, versorgen wir sie und ihre Familien mit allem, was gebraucht wird: Grundnahrungsmittel, Wasser, Kleidung, Medikamente etc. Das ermöglicht den Kindern, in unsere Schulen zu gehen.
Da viele Familien mittlerweile ein Jahrzehnt in diesen rudimentären Lagern leben, versuchen wir nicht nur das Überleben zu sichern, sondern auch ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Wir übernehmen Müllentsorgung und Hygiene in den Camps, wir bauen kleine Bäckereien, um die Geflüchteten mit Fladenbrot zu versorgen, wir bieten Alphabetisierungskurse für Erwachsene, bezahlen die medizinische Versorgung bei Kranken und versuchen, Ansprechpartner in allen Nöten zu sein.
Unter welchen Umständen leben Frauen und junge Mädchen dort?
Für Frauen und Mädchen ist Flucht doppelt schwer, befinden sie sich doch meistens auch in dem vermeintlich "sicheren" Land, in das sie geflohen sind, immer noch in einem mehr oder weniger schutz- und rechtlosen Raum. Auf Flüchtlings-Frauen und -Mädchen gibt es im Libanon immer wieder sexuelle Übergriffe, die von niemandem geahndet werden, weswegen die meisten Mädchen ihre Camps seit Jahren nicht mehr verlassen haben. Auch Frühehen nehmen leider immer mehr zu, weil es für viele Familien die einzige Möglichkeit ist, ihre Töchter sicher und versorgt zu wissen, in dem sie sie früh verheiraten.
Mit ihrem Projekt INVICTA, das auch Sternstunden unterstützt, wollen Sie die Situation der Mädchen und Frauen verbessern. Was wird dabei konkret gemacht?
Unser INVICTA-Programm ist so vielseitig wie die Probleme der Frauen.
Viele der Frauen sind Kriegswitwen und befinden sich nun in der Situation, alleinerziehende Mütter zu sein in einer Region und Kultur, in der es das eigentlich gar nicht gibt (geben darf). Wir unterstützen die Frauen mit unserer "Witwentüte" (regelmäßigen Lebensmittellieferungen), damit sie ihre Familien versorgen können.
Außerdem möchten wir junge Mädchen davor bewahren, mit 15 bereits verheiratet zu werden, und schaffen ganz bewusst Alternativen, in dem wir ihnen schulische und berufsbildende Weiterbildungen bieten, so dass sie bis zur Studienqualifikation ausgebildet werden. Wir wollen sie gezielt in die Lage versetzen, sich selbständig versorgen zu können und nicht von einer Heirat abhängig zu sein.
Geflüchtete haben nahezu keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Besonders für Mädchen und Frauen ist das in Pubertät, Schwangerschaft, Stillzeit etc. manchmal sehr schlimm. In unserer Medizinstation finden die Mädchen und Frauen nun kontinuierliche Ansprechpartner (Ärztinnen, Hebammen, Krankenschwestern) für alle Probleme. Darüber hinaus werden in der Sprechstunde auch Mutter-Kind-Pakete verteilt, die alles enthalten, was Neugeborene brauchen, um optimal durch die ersten Monate zu kommen (Flaschen, sterile Schnuller, Windeln, Wundcreme….)
Wir wollen Mädchen und junge Frauen stark machen für die Zukunft.
Welche Schicksale von Frauen sind Ihnen besonders im Kopf geblieben?
Spontan fallen mir als erstes Vara und Elenya ein, beide 15 Jahre alt, zwei Freundinnen, die sich buchstäblich seit ihrer Geburt (ihre Mütter waren zusammen im Krankenhaus) kennen. Als sie sieben Jahre alt waren, gingen sie wie immer morgens zur Schule und als sie mittags von ihren Vätern abgeholt wurden (was sehr ungewöhnlich war) konnten sie nie wieder nach Hause zurück, sondern flohen in den Libanon. Seitdem versuchen sie, sich im Libanon an das neue Leben ohne Halt, ohne Struktur, ohne Zukunft zu gewöhnen. Elenyas Vater war zuhause Orthopäde und Elenya wollte immer in seine Fußstapfen treten. In den Camps war da über viele Jahre ein nahezu hoffnungsloser Traum. Durch unser INVICTA-Programm hat sie wieder eine Chance auf die Zukunft, die sie immer wollte.
Was bewirkt die Unterstützung von Sternstunden?
Dank der großartigen Unterstützung von Sternstunden konnten wir 100 Mutter-Kind-Sets an junge Mütter und ihre Babys verteilen, 150 Witwen mit Lebensmitteln für sich und ihre Kinder versorgen und 150 junge Mädchen den Zugang zu einer weiterführenden Schule ermöglichen.