Andreas Krebs macht sich Gedanken über Leadership

Fast jeden Monat schreiben Projektträger zu einem bestimmten Stichwort. Im Juli macht sich Andreas Krebs vom Förderverein Girassol e.V. Gedanken über das Führen ohne Titel.

Im Kinderzentrum Girassol Kids in Sao Paolo erhalten die Mädchen und Jungen drei gesunde Mahlzeiten am Tag, sondern auch Bildungsangebote wie z.B. das Capoeira-Training. (© Foto: Förderverein Girassol e.V.)

Führen ohne Titel: Was mir eine private NGO über Leadership beigebracht hat

Als Vorstand eines internationalen Konzerns war für mich klar, wie Führung geht: mit Strukturen, Budgets und großer Entscheidungsverantwortung. Heute engagiere ich mich – gemeinsam mit einem leidenschaftlichen Team – für SBA Girassol Kids/Pro, einem Bildungs- und Sozialprojekt für Kinder und Jugendliche in einem ärmlichen Randbezirk von São Paulo/Brasilien. Girassol ist kein Konzern. Und doch fordert mich dieses Engagement mehr heraus als mancher Vorstandsposten.

Denn in einer NGO führt man nicht über Titel, Machtbefugnisse oder Anweisungen. Man führt über Sinn, Glaubwürdigkeit – und Vertrauen. Entscheidungen entstehen in Netzwerken, in unserem Fall über Kontinente hinweg, oft mit begrenzten finanziellen Mitteln und auch mit großer Verantwortung. Führung bedeutet hier nicht, vorne zu stehen, sondern da zu sein, wenn es schwierig wird. Und das wird es, wenn Spenden ausbleiben, sich verzögern, wenn Missverständnisse entstehen. Wenn Menschen, die helfen wollen, sich zurückziehen, sobald es konkret bedeutet, zu arbeiten.

Ich habe gelernt: Man führt in einer NGO durch Präsenz, nicht durch Präsidium. Durch Haltung, nicht durch Macht. Und man muss aushalten, dass nicht alles steuerbar ist. Wer über Kontinente hinweg etwas bewegen will, muss auch loslassen können – ohne sofort Gleichgültigkeit zu riskieren.

Im Berufsbildungszentrum Girassol Pro ist die Vermittlungsquote in bezahlte Arbeit beachtlich, zum Teil bis zu 90 Prozent bei den Bäckern. (© Foto: Förderverein Girassol e.V.)

Die Arbeit bei Girassol hat mir besonders deutlich gemacht hat, dass der moralische Anspruch, Gutes zu tun, nicht die Frage ersetzt nach Wirkung, Struktur und Klarheit. Auch in einer NGO gibt es Eitelkeiten, Meinungsverschiedenheiten und Reibungen. Wer mit dem Anspruch auftritt, der ´bessere Mensch´ zu sein, steht manchmal im Weg, wenn es darum geht, ganz praktisch, tatkräftig zu helfen.

Nachhaltige Veränderung braucht Haltung, Verantwortung – und manchmal auch die Bereitschaft, Widerstände auszuhalten. Nicht immer ´everybody‘s darling´ zu sein. Denn so sehr das Wohl der Institution im Zentrum stehen muss, so sehr sind auch die Ambitionen, Erwartungen und Befindlichkeiten von Förderern und Partnern ernst zu nehmen und zu berücksichtigen. Das kann mitunter strapaziös bis frustrierend sein – Empfindungen, die besonders schwer erträglich sind, wenn Arbeit im Ehrenamt geleistet wird.

Und dann gibt es diese Ereignisse, die alle Mühen belohnen, die alles rechtfertigen, die zeigen, warum man das alles tut:

Andressa – die stille Beste
Sie war siebzehn, klug, attraktiv, zurückhaltend – und die Beste in unserem Kurs für Verwaltungsgrundlagen. Doch hinter ihrer ruhigen Fassade verbarg sich eine tiefe Depression, die schließlich in einem Suizidversuch gipfelte. Nur durch den beharrlichen Einsatz unseres psychosozialen Teams konnte sie aufgefangen und stabilisiert werden. Heute besucht Andressa abends die Universität, um sich zur Diplomkrankenschwester ausbilden zu lassen. Tagsüber arbeitet sie in der Verwaltung einer NGO-Gesundheitsstation und ernährt mit ihrem Gehalt elf Familienmitglieder.

Die Absolventinnen und Absolventen des Bäckerkurses (© Foto: Förderverein Girassol e.V.)

Lorenzo – der Junge, der nicht böse war
Er wurde aus seiner ersten Kita geworfen, weil er andere Kinder biss und um sich schlug. Seine Mutter brachte ihn zu Girassol. Unsere Pädagoginnen und der psychosoziale Dienst erkannten schnell, was dahintersteckte: Lorenzo leidet an Autismus. Es folgten Arzttermine, Diagnosen, Therapie. Heute kann Lorenzo mit anderen Kindern kommunizieren, die Aggressivität ist gewichen. Seine Mutter wurde geschult, wird kontinuierlich unterstützt – und kann wieder arbeiten gehen. Für die Familie hat sich eine neue Perspektive eröffnet – weil jemand hingeschaut und nachhaltig geholfen hat.

Ich habe in meinem Leben viele Bilanzen gesehen. Aber keine hat mich so berührt wie dieser Satz einer Mutter einer unserer Auszubildenden im Berufsbildungszentrum: 
„Girassol bedeutet für meinen Sohn – und für unsere ganze Familie – Zukunft in Ehrlichkeit und Würde.“

Leadership in einer NGO folgt keinem fertigen Konzept. Es ist Beziehung, Verantwortung – und das Aushalten von Widersprüchen. Vielleicht liegt gerade darin die Kraft, nicht alles kontrollieren zu müssen, sondern gemeinsam, gelegentlich auch im zähem Ringen miteinander, zu gestalten.

Girassol hat mir gezeigt, dass man auch anders führen kann. Menschlicher. Und ziemlich sicher: näher dran am echten Leben!

Andreas Krebs ist Vorsitzender des Förderverein Girassol e.V. (© Foto: Privat)

Meldung erstellt am: 07. Juni 2025