Eckhard Baumann macht sich Gedanken über den Willen zu helfen
Jeden Monat schreiben Projektträger zu einem bestimmten Stichwort. Im Januar macht sich Eckhard Baumann von Straßenkinder e.V. Gedanken über den Willen zu helfen.
Eckhard Baumann betreut Straßenkinder in Berlin und vom Krieg betroffene Kids in der Ukraine.
Es ist der 24. November 2023. Draußen schneit es, es hat -12°C, es ist dunkel. Kein Mensch ist auf der Straße, schnell fahren einige wenige Autos auf der breiten Prachtstraße durch die Stadt. Dann erklingt Luftalarm und die Warn-App sagt, dass eine russische Rakete in der Stadt eingeschlagen ist. Ich sitze im zehnten Geschoß eines spärlich beheizten Hotelzimmers in Zaporizhzhia, im Osten der Ukraine. Kurz denke ich darüber nach, warum ich eigentlich ein Hotelzimmer am Rande dieses großen Platzes buchen musste und warum ausgerechnet im zehnten Obergeschoß. In mir kommt ein bisschen Angst auf, die ich halbwegs erfolgreich verdränge. Dann denke ich an meinen Besuch heute Mittag im Kids-Club auf der anderen Seite des Platzes, den wir vor elf Monaten gegründet haben. Ich denke an den traumatisierten 13-jährigen Jungen Timur aus Polohi, neben dem eine russische Rakete explodiert ist. Seit er in unseren Kids-Club geht, fängt er wieder an zu lachen.
Auch der kleine dreijährige Sasha kommt mir in den Sinn, der von einer Mitarbeiterin unseres Clubs aufgenommen wurde. Er wurde auf dem Trottoir zurückgelassen, vielleicht ist seine Mutter tot.
Und ich denke an Anya, 14 Jahre, das Wolfsmädchen aus dem Donbas. Sie ist in einem unserer anderen sechs Kids-Clubs in der Ukraine. Bis vor einem halben Jahr, nach ihrer Flucht aus dem russisch besetzten Teil des Donbas, hat sie kein Wort geredet, sondern nur nach unten geschaut und sich in ihrem Kapuzenpulli versteckt. Sie nahm Drogen, trank, rauchte und machte allerlei sonstige Dummheiten. Seit sie in unsere Einrichtung kommt und dort Anschluss und Betreuer, die ihr zuhören und sie auffangen, fand, ist sie aufgeblüht - Anya lacht hin und wieder sogar und beginnt, wieder ein richtiger Teenie zu sein.
Draußen vor meinem Fenster erklingt zum dritten Mal die Sirene und ich denke an die Kids im Club, die hier um die Ecke im Plattenbau leben und diesen Psychoterror jeden Tag mitmachen müssen. Ich denke bei mir: „Alles was du tun kannst, das musst du tun - für Anya, für Timur und für den kleinen Sasha und weil sie es verdient haben.“ Nach einem kurzen seufzenden Gebet schlafe ich ein, bis zum nächsten Alarm um vier Uhr morgens.
21 Monate zuvor, am 24. Februar 2022. Draußen schneit es bei -5°C, es ist sonnig, es sind viele Menschen um mich herum. Wie jedes Jahr fahre ich für einige Tage Ski, diesmal in Oberstdorf, um den Kopf ein wenig frei zu kriegen. Mein Kollege Markus ruft mich an: Wir sprechen über den Angriff der russischen Armee gegen die Ukraine und sind absolut entsetzt. Wir fragen uns nicht, ob wir helfen können, sondern nur wie! Wie können wir helfen und wer hilft uns dabei?
Seit 2017 haben wir bereits eine Einrichtung in der Ukraine, ein Kinderzentrum in Znamyanka in der Zentralukraine, gegründet zusammen mit Freunden der HahnAir Foundation. Ich selbst war seit 2008, wenn man alle Tage zusammengerechnet, über ein Jahr in der Ukraine. Wir haben so viele Freunde dort - gute Leute von sozialen und kirchlichen Trägern, die können wir doch jetzt nicht im Stich lassen. Noch auf der Skipiste fällt der Entschluss: Wir brauchen ein Ukraine-Sonderkonto und wir fragen alle unsere Förderer, darunter als erstes auch Sternstunden, ob sie uns helfen können. Die ersten Spenden gingen ein und so war es uns möglich, den Kindern in der Ukraine seit Kriegsbeginn mit über 2,3 Mio. Euro an Hilfsgeldern zielgerichtet zu helfen. Für uns als kleiner sozialer Träger ist das eine riesige Summe mit einer immensen Wirkung.
Da der Krieg gegen die Ukraine nun bereits zwei Jahre andauert und damit seit Kriegsbeginn keine kindgerechte und unbeschwerte Kindheit mehr möglich ist, richten wir unseren Fokus seit Beginn des Jahres 2023 besonders auf die Kinder- und Jugendhilfe und bieten in verschiedenen Städten, auch in Frontnähe, täglich abwechslungsreiche Kinderprogramme und nachfolgend Lebensmittelausgaben an. Dies bietet zumindest stundenweise kindgerechte Abwechslung, die Möglichkeit zur Verarbeitung der schlimmen Geschehnisse, Ermutigung und auch die Möglichkeit des Aufwärmens.
Darüber hinaus ist vielerorts kein oder nur eingeschränkter Schulbetrieb möglich, weswegen wir in den Kids-Clubs auch intensive Unterstützung bei Bildung ermöglichen. Dies ist deshalb so wichtig, da die Kinder seit mittlerweile über dreieinhalb Jahren nicht richtig zur Schule gehen können, denn der Coronapandemie hat sich nahtlos der russische Angriffskrieg angeschlossen. Den Kindern fehlen daher Möglichkeiten der Interaktion mit Gleichaltrigen und jegliche gesellschaftliche Teilhabe. Umso wichtiger ist es deshalb, dass wir Treffpunkte und Schutzräume für die Kids schaffen, in denen sie kindgerecht aufwachsen können sowie Ermutigung und Unterstützung erhalten.
Neben unserem seit 2017 bestehenden Zentrum und Partnerprojekt in Znamyanka konnten so bereits fünf weitere Kids-Clubs an den Standorten Poltava, Charkiv, Zaporizhzhia, Dnipro und Odessa eröffnet werden. Darüber hinaus unterstützen wir ein Zentrum für Geflüchtete in der Region Cantemir in Moldawien, in dessen Räumen wir auch mit Jugendarbeit begonnen haben. Wie wir den Kindern in der Ukraine helfen, zeigt ein kurzes Video, welches unsere Arbeit für die Kids in der Ukraine beleuchtet.
„Der Wille zu helfen“, davon bin ich überzeugt, steckt in vielen Menschen. Jede und jeder kann einen kleinen Beitrag leisten, damit Worte wie Nächstenliebe und Solidarität keine leeren Worthülsen bleiben. Mein Wunsch für Sie: Einfach anfangen und eine Organisation unterstützen, die transparent ist, mit deren Motivation Sie übereinstimmen. Helfen tut mir und sicherlich auch Ihnen gut!
Meldung erstellt am: 19. Januar 2024