Jacqueline Flory macht sich Gedanken über Kindheit auf der Flucht
Jeden Monat schreiben Projektträger zu einem bestimmten Stichwort. Im März macht sich Jacqueline Flory, Gründerin von Zeltschule e.V., Gedanken über Kindheit auf der Flucht.
Midian ist acht Jahre alt und besucht unsere Zebraschule. Er ist eines der vielen, vielen syrischen Kinder, die im Libanon zur Welt gekommen sind. Seine Familie stammt aus Homs, einer der Städte, die schon zu Beginn des Krieges fast völlig zerstört wurden. Zehn Jahre liegt die Flucht seiner Eltern mit seinen beiden älteren Brüdern zurück.
Im Camp und auch in seiner Familie wird viel von „Zuhause“ gesprochen, aber er kennt diesen Ort nicht, er kennt gar nichts außerhalb des Camps, denn die den Flüchtlingen zugewiesenen Areale zu verlassen, ist nicht ungefährlich. Seit 2015 brauchen alle Syrer eine Aufenthaltsgenehmigung, die aber 30 US Dollar kostet, also unerschwinglich ist. Wer aber ohne Aufenthaltsgenehmigung in eine Kontrolle gerät, kann sofort ausgewiesen werden, weswegen die meisten Geflüchteten ihre Camps nur verlassen, wenn sie unbedingt müssen. Midian war noch nie auf der Straße oder in einem Geschäft, er saß noch nie in einem Auto, hat noch nie in einem Bett geschlafen, nie auf einen Lichtschalter gedrückt, nie heiß geduscht.
Wir neigen dazu, den Weg von A nach B als Flucht anzusehen. Wenn Menschen wochenlang auf der Balkanroute Richtung Europa unterwegs sind, glauben wir, ihre Flucht sei abgeschlossen, wenn sie zu den Glücklichen gehören, die gesund in einem Auffanglager in Europa ankommen. Midians Familie kam schon vor einem Jahrzehnt im Libanon an, in eben diesem Camp. Aber ihre Flucht ist nicht vorbei, sie findet jeden Tag statt, an dem sie nicht nach Hause zurückkehren können, weil die politischen Gegebenheiten in Syrien es nicht zulassen, weil ein diktatorisches Regime sie noch an der Grenze verhaften würde. Sie sind nicht freiwillig im Libanon, das Camp wurde ihnen zugewiesen. Ihr Zelt steht an der einzigen Stelle, an der es damals noch Platz gab; keinen Aspekt ihres Lebens haben sie aus freien Stücken gewählt.
Midians ältere Brüder Kamal und Jalil sind 15 und 13. Sie haben Erinnerungen an ein großes Haus, an ihre Wohnung im vierten Stock, an ein Restaurant gleich um die Ecke, in dem die Familie oft essen ging. Sie erinnern sich an Spielsachen und Fernsehen und Ausflüge.
Mir als Helferin fällt es schwer, die Dramatik der beiden Situationen einzuordnen: Ist es schlimmer, kein anderes Leben zu kennen als das in einem Flüchtlingscamp, also das Elend als Normalität akzeptiert zu haben? Oder ist es schlimmer, sich ständig nach seinem alten Leben zu sehnen, genau zu wissen, dass man in eine Ausnahmesituation geschleudert wurde, aus der es kein Entrinnen mehr gibt?
Die Flucht ist keine traumatische Kindheitserfahrung, sondern Tausende Kinder verbringen ihre gesamte Kindheit auf der Flucht.
Die Ausweglosigkeit der Situation wird klar, wenn man sich bewusst macht, dass Kinder wie Midian offiziell gar nicht existieren. Er hat keine Geburtsurkunde, ist staatenlos. Er und tausende anderer Kinder, die im Libanon zur Welt kamen, sind in keiner Statistik erfasst, in keiner der offiziellen Zahlen über die Anzahl der syrischen Geflüchteten im Libanon. Er hat keine Papiere, kann nicht heiraten, nicht das Land verlassen. Vielleicht kann er nach Kriegsende nicht einmal mit seiner Familie nach Hause zurückkehren, denn seine Eltern können nicht beweisen, dass Midian ihr Kind und damit Syrer ist. Es gibt Midian gar nicht. Und Midian ist nur eines von Tausenden Kindern, die es nicht gibt.
Durch die Arbeit von Zeltschule e.V. – und die regelmäßige Förderung von Sternstunden – können wir Kindern wie Midian Zugang zu Bildung ermöglichen. Der Schülerausweis unserer Zeltschule - sein ganzer Stolz - ist sein einziges Dokument, das er hütet wie einen Schatz. Für uns existiert er und ist wichtig und wir werden weiterhin alles tun, um ihm eine glückliche Zukunft zu ermöglichen.
Meldung erstellt am: 17. März 2023