Eltern und Kinder unterstützen nach der Diagnose Krebs

Professor Wolfgang Hiddemann erzählt im Interview über die Arbeit von lebensmut e.V. und die Hilfe durch die Familiensprechstunden.

Professor Wolfgang Hiddemann gründete 1999 den Verein lebensmut und ist Erster Vorsitzender. (© Foto: lebensmut e.V.)

Könnten Sie bitte für Laien erklären, wieso die Psychoonkologie wichtig für Erkrankte ist?

Professor Hiddemann: Dazu muss man sich nur in die Lage eines Patienten versetzen, der gerade von seinem Arzt erfährt, dass er Krebs hat. Es ist für die meisten Betroffenen ein Schock, dass sie eine lebensbedrohliche Krankheit haben. Bei vielen läuft in diesem Moment ein innerer Film von Leiden, Schmerzen und Tod ab. Der betreffende Mensch möchte nicht nur medizinisch sehr gut betreut werden, sondern er braucht auch ein Netz, in das er sich fallen lassen kann, wo er sich verstanden fühlt und wo seine seelischen Ängste und Nöte aufgefangen werden. Genau das bietet die Psychoonkologie. Menschen mit einer Krebserkrankung können sich an geschultes Fachpersonal wenden, das genau weiß, wie Betroffene empfinden, das ihnen zuhört und weiß, was ihnen in dieser Situation helfen kann.
 

Wenn bei einem Elternteil eine Krebserkrankung festgestellt wird, dann hat das noch einmal eine ganz andere Bedeutung als bei anderen Personen, denn da gibt es ja Kinder, die oft noch sehr jung sind.

Professor Hiddemann: Krebs ist vor allem eine Erkrankung des höheren Lebensalters. Aber es gibt auch junge Menschen, die Krebs bekommen und die zugleich Eltern sind. In dieser Situation geht es nicht nur um den betroffenen Menschen selbst, sondern auch um die Frage, wie gehe ich jetzt mit meinen Kindern um? Bei vielen Eltern läuft zunächst ein Mechanismus ab: Ich muss meine Kinder schützen, das darf ich ihnen nicht sagen, das ist viel zu kompliziert und gefährlich, das können sie noch nicht verkraften.

Aber die Kinder haben ja oft ein feines Sensorium und merken, dass etwas anders ist.

Professor Hiddemann: Genau das ist der Punkt, weshalb wir 2006 die „Familiensprechstunde“ gegründet haben. Kinder haben ein sehr feines Gespür dafür, wenn etwas nicht stimmt. Und wenn keiner mit ihnen redet, dann haben Kinder sehr häufig das Gefühl, dass sie schuld daran sind, dass es Mamma oder Papa nicht gut geht.

Ist denn Ehrlichkeit über den Gesundheitszustand immer angesagt – auch dann, wenn die Kinder noch klein sind?

Professor Hiddemann: Ich glaube, grundsätzlich ist Ehrlichkeit geboten. Es kommt natürlich darauf an, wie man Kindern diese Situation nahebringt. Viel hängt davon ab, wie offen die Eltern dafür sind, mit den Kindern diese Problematik wirklich zu besprechen. Und dann hängt es natürlich auch vom Alter der Kinder ab. In der Familiensprechstunde werden Kinder von einem oder zwei Jahren bis zu etwa 14 Jahren begleitet. Bei kleinen Kindern kann man diese Problematik dadurch angehen, dass man zum Beispiel eine Krankenhaussituation nachspielt und sie auch darstellen lassen, was sie sich wünschen. Bei älteren Kindern kann man diese Problematik anders ansprechen und verbalisieren, aber auch bei ihnen kann man versuchen zu spielen, damit sie offener werden.

Der Verein lebensmut begleitet Menschen mit einer Krebserkrankung. 2008 hat lebensmut e.V. eine „Familiensprechstunde“ initiiert. Das Angebot richtet sich an krebskranke Eltern mit minderjährigen Kindern. (© Foto: lebensmut e.V./Andreas Steeger)

Was geschieht in den Familiensprechstunden von lebensmut e.V.?

Professor Hiddemann: In den Familiensprechstunden wurden seit ihrer Gründung 2006 bisher schon mehr als 800 Familien mit über 1300 Kindern beraten und begleitet. 
Bei jeder Beratung kommt es auf die jeweilige Situation an. Es kann sein, dass man beim Erstkontakt mit der ganzen Familie spricht, es kann auch sein, dass man erst einmal nur mit den Eltern im Kontakt ist. Was wir uns wünschen ist, dass wir im Lauf der Begleitung die Gelegenheit haben, uns mit den Kindern alleine zu unterhalten und mit ihnen in Kontakt zu kommen, denn sie brauchen in dieser Situation Unterstützung. 
Aber wir beraten natürlich auch die Eltern und helfen ihnen, die richtigen Worte für das Gespräch mit ihrem Kind zu finden.

Sie bieten auch Gruppen für Kinder und Jugendliche an.

Professor Hiddemann: Das ist eine ganz wichtige Komponente, die die Familiensprechstunde ergänzt. Unsere Kindergruppe „Die Bergfüchse“ organisieren wir zusammen mit dem Deutschen Alpenverein. Hier sind nur Kinder krebskranker Eltern Mitglieder. Sie unternehmen etwas miteinander, wie zum Beispiel Ponyreiten, eine kleine Wanderung oder sie treffen sich im Kriechbaumhof der Alpenvereinsjugend und spielen oder malen dort. Dabei wird gar nicht so sehr über die Krankheit geredet. Die Kinder müssen nicht groß etwas erklären, denn alle wissen, jeder ist in einer ähnlichen Situation. Manchmal geht es auch um die Frage, wie es denn dem Papa oder der Mama geht. Aber bisweilen wird während der ganzen Veranstaltung überhaupt nicht über Krebs gesprochen. Trotzdem ist das eine extrem hilfreiche Möglichkeit für die Kinder, sich zu entspannen und aus ihrer Situation zu befreien.

Und für ältere Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren gibt es den „#FreiRaum“. Das ist eine Möglichkeit, um miteinander zu chillen. Auch diese Jugendlichen wissen alle, worum es geht und sie fühlen sich in der Gruppe wohl.

Wie hat Sie Sternstunden e.V. dabei unterstützt, besser helfen zu können?

Professor Hiddemann: lebensmut ist ein gemeinnütziger Verein. Wir finanzieren uns ausschließlich über Spenden oder über eine Projektförderung. Wir sind relativ früh, als wir die Idee zur Familiensprechstunde hatten, an Sternstunden e. V. herangetreten und haben gefragt, ob sie uns dabei helfen könnten. Und dann hat uns Sternstunden beim Aufbau der Familiensprechstunde unterstützt. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass unsere Familiensprechstunde extrem gut ankam. Wir haben in Großhadern mit einer relativ kleinen Gruppe begonnen, dann wurde die Nachfrage so groß, dass wir die Familiensprechstunde nun auch an einem zweiten Standort in der Innenstadt anbieten. Auch dabei unterstützt uns Sternstunden. Ohne Sternstunden wäre das Ganze nicht möglich.

Wir sind dankbar, dass wir die Familien unterstützen können. Deshalb bitten wir darum: Öffnen Sie Ihre Herzen und Ihren Geldbeutel, damit wir weiterhin helfen können. (gr)

Meldung erstellt am: 20. März 2023