Isabell Baumann macht sich Gedanken über Privilegien
Jeden Monat schreiben Projektträger zu einem bestimmten Stichwort. Im Juni macht sich Isabell Baumann von Straßenkinder e.V. Gedanken über Privilegien.
An manchen Tagen, wenn ich nach Feierabend mit der Bahn nach Hause fahre, denke ich an unsere Straßenkids. In einigen Minuten werde ich meine Wohnungstür erreichen, sie fest hinter mir verschließen und dann den Abend an einem Ort verbringen, an dem ich mich wohlfühle, etwas zu Essen, fließend Wasser und Wärme habe. Die Kinder und Jugendlichen, die wir betreuen, haben all diese Dinge nicht. Ihnen bleibt nur die Straße.
In Gesprächen mit den Straßenkindern wird mir immer wieder bewusst, wie privilegiert wir sind. Frisch gewaschene Kleidung oder saubere Hände sind keine Selbstverständlichkeit für sie. Sie schlafen mit Schlafsäcken unter Brücken und schnorren stundenlang am Alexanderplatz, um sich etwas zu Essen kaufen zu können. All dies mitzuerleben ist wie das Eintauchen in eine andere Welt und nicht leicht zu ertragen. Letzten Endes steckt in jedem Straßenkind ein kleiner Überlebenskünstler, der nur wenig Glück in seiner Kindheit hatte und sich dennoch auf kreative Art und Weise durchs Leben kämpft.
Und genau deshalb sind die Hilfsangebote unseres Vereins so wichtig: Die Sicherstellung der Grundversorgung, das Aufladen elektronischer Geräte und die Möglichkeit, unsere Dusche zu benutzen. Darüber hinaus schenken wir den obdachlosen Kindern und Jugendlichen stets emotionalen Halt und Sicherheit. Wo andere Institutionen nicht mehr oder noch nicht greifen und kein Platz mehr für die sogenannten Systemsprenger ist – dort kommen wir zum Einsatz. Unser Team ist für viele junge Menschen eine Art Ersatzfamilie, in der sie immer willkommen sind und ihre Anliegen und Probleme teilen können. Braucht jemand aufbauende Worte, bekommt er das. Wird eine tröstende Schulter benötigt, kümmern sich die Sozialarbeitenden gerne. Hat ein Jugendlicher Geburtstag, bekommt er vom Team einen kleinen Kuchen mit Kerze geschenkt. Bei uns erhalten die Straßenkinder kontinuierliche Unterstützung, auf die sie sich stets verlassen können.
Noch immer wird dem Thema Jugendobdachlosigkeit in Deutschland zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Daher ist es für uns ein großer Moment, dass durch uns in Berlin aktuell ein bisher bundesweit einzigartiges Haus entsteht, in dem obdachlose Kinder und Jugendliche nachhaltig betreut und schnellstmöglich von der Straße geholt werden können. Auf sieben Etagen ist Raum für vielfältige tagesstrukturierende Wohn- und Beratungsangebote, die den Reintegrationsprozess von Straßenkindern fördern. Ich freue mich besonders, dass wir den Kindern dort einen sicheren Schlafplatz abseits der Gefahren der Straße bieten können. Die Dringlichkeit sehen wir bei unserer täglichen Arbeit auf den Straßen Berlins. Zum Beispiel bei Elli.
Elli, 17 Jahre, flog vor Kurzem bei ihrer alleinerziehenden Mutter raus, da sie ständig Streit hatten. Elli dockte bei uns an und verbrachte die meisten Tage in unserer Anlaufstelle. Doch für die Nacht konnten wir ihr noch keinen Platz bieten. Wir vermittelten sie in eine Notübernachtung für Jugendliche, doch leider bekam sie nicht immer einen Platz. Deshalb sah sie keine andere Option, als sich mit älteren Männern anzufreunden, die sie bei sich in ihrer Wohnung schlafen ließen. Das war für sie das kleinere Übel und weniger gefährlich als das Schlafen im Freien. Doch mit diesen Bekannten machte Elli leider ein paar sehr schlimme Erfahrungen, die sie sehr prägten und sie immer mehr in den Sog des Straßenlebens hineinzogen. Schlussendlich wurde Elli von so einer „Begegnung“ sogar schwanger und sah keine andere Option als einen Schwangerschaftsabbruch. Es hat ihr zutiefst das Herz gebrochen.
Hätte es das Straßenkinderhaus BUTZE schon gegeben, hätten wir Elli übergangsweise ein sicheres Dach über dem Kopf bieten können und sie hätte all diese Erfahrungen in ihren jungen Jahren nicht machen müssen. Deshalb können wir es kaum erwarten, bis das BUTZE steht, damit sich viele Schicksale von Straßenkindern und -jugendlichen zum Positiven wenden. Bis dahin nutzen wir unsere vorhandenen Ressourcen, um diesen jungen Menschen Hoffnung und Perspektiven für die Zukunft zu schenken.
Meldung erstellt am: 22. Juni 2023