Burghard Schunkert macht sich Gedanken über Leben mit Behinderung in Bethlehem
Jeden Monat schreiben Projektträger zu einem bestimmten Stichwort. Im Juli macht sich Burghard Schunkert von Lifegate Rehabilitation e.V. Gedanken über Leben mit Behinderung in Bethlehem.
Es war ein leuchtender Stern oder vielleicht eine Sternenkonstellation, die weisen Menschen aus der Ferne den Weg in die kleine Stadt am Rande der judäischen Wüste wies. Diese kamen schließlich in Bethlehem in einem Stall an und fanden dort das Kind, das einmal vielen Menschen Liebe, Hoffnung und ein neues Leben schenken sollte. Der Himmel war auf die Erde gekommen. Gott in menschlicher Gestalt. Dieses warme Licht der ersten Sternstunde strahlt bis heute in unsere Welt, ist immer noch Ursprung, Zeugnis und Kraftquelle für viele Sternstunden, die Hoffnung, Liebe und Zuversicht verbreiten und Hilfe für Menschen in Not ermöglichen.
Der Verein Sternstunden unterstützt seit Jahren unsere Arbeit, nicht weit vom Schauplatz dieser alten und immer wieder neuen biblischen Geschichte: Lifegate – Ein Tor zum Leben in Beit Jala/Bethlehem.
Im Jahr 2021 war die Welt wegen eines kleinen Virus ordentlich auf den Kopf gestellt. Auch in Bethlehem kam das öffentliche Leben fast zum Erliegen, der so wichtige Tourismus fand nicht mehr statt, viele Menschen wurden arbeitslos. Richtlinien und Restriktionen der Gesundheitsbehörden schränkten unsere Bewegungsfreiheit ein. Der für unsere Kinder so wichtige körperliche Kontakt und das Lesen der Gesichtsmimik wurden durch Masken und Berührungsängste fast unmöglich. Wie gut, dass uns das lokale Gesundheitsamt grünes Licht gab, die Arbeit normal weiterführen zu können, da wir Hygienevorschriften einhielten und unsere Förderung oft in kleinen Gruppen stattfand. Kinder, Eltern und unser Team hatten weiterhin eine wichtige tägliche Routine im Durcheinander der neuen Nachrichten und Verordnungen. In jenem Jahr - durch die beständige Fürsprache unserer Krankenschwester, die mit vielen der betroffenen Eltern im Gespräch war - entschlossen wir uns, eine Förder- und Betreuungsgruppe von schwerst-mehrfachbehinderten kleinen Kindern zu eröffnen. Sechs Kinder wurden von zwei Betreuerinnen, der Krankenschwester und unserem Therapeutenteam aufgenommen und gefördert. Die Mütter haben seitdem ein wenig mehr Zeit für sich selbst, können durchatmen und neue Kräfte zu sammeln. Bisher wurden bei Lifegate vorwiegend Kinder mit Einschränkungen gefördert, die viele Lebensfunktionen selbstständig erlernen und später ausführen können, nun kamen Kinder die gefüttert, gewickelt, gelagert und aus einem Buggy oder Rollstuhl gehoben werden müssen, um auf einem Kissen, einer Matratze oder in einem Ruhebett zu liegen. Kinder, die uns anfänglich nicht wissen ließen, ob sie uns wahrnehmen und fast kein Feedback geben können.
Die Situation von Kindern und jungen Menschen mit einer Behinderung im palästinensischen Autonomiegebiet ist sehr schwierig. Es fehlt jegliche finanzielle Unterstützung öffentlicher Stellen für Familien und Einrichtungen. Eltern haben nicht selten eine lange und schwierige Suche nach Menschen und Einrichtungen hinter sich, die eventuell helfen können und erfuhren auf diesem Weg bereits viel Ablehnung und sind oft hoffnungslos. Dazu kommt die schwierige Familiensituation: Die weit verbreiteten Heiraten in den gleichen Großfamilien (Cousin und Cousine) führen dazu, dass genetische Probleme in die nächsten Generationen weitergetragen werden und sich dann in verschiedenen Behinderungen auswirken. Die Spina Bifida Krankheit tritt noch häufig auf, Sauerstoffmangel bei der Geburt führt zu Gehirnschädigungen, die körperliche und geistige Behinderungen zur Folge haben können (Zerebrale Parese). Dazu begegnen uns viele Kinder mit Down-Syndrom und immer mehr Kinder mit der Diagnose Autismus, die Förderung benötigen. Bei Lifegate wollen wir niemanden mit leeren Händen wegschicken und beginnen in der Regel nach dem ersten Kennenlernen mit einzelnen wöchentlichen Therapiestunden. Ein täglicher Rehaplatz in der Einrichtung mit Schwerpunkt auf Bildung, medizinischer und therapeutischer Förderung und intensiver Zusammenarbeit mit den Eltern kann erst ermöglicht werden, wenn Plätze frei werden bzw. neue Plätze bei Lifegate geschaffen werden können. Der Bedarf ist groß!
„Jeder Mensch ist ein liebenswertes Geschöpf Gottes und hat ein Recht auf Anerkennung, liebende Zuwendung, Entwicklung, Förderung und eine hoffnungsvolle Zukunft!“ Eine der Schlüsselaussagen, die wir bei Lifegate Eltern bei den ersten Begegnungen mitteilen und damit auch darauf hinweisen, dass die christliche Nächstenliebe sich in Rat und Tat und der Fachlichkeit in unserer Arbeit ausdrückt, aber auch im täglichen Lifegate-Leben eine Rolle spielt und bei unseren christlichen Festen miteinander gefeiert wird. Muslimische Eltern (99,2 % der palästinensischen Bevölkerung) nehmen das zur Kenntnis, sind nicht unbedingt begeistert, aber vertrauen uns nach kurzer Zeit und sehen an ihren Kindern und jungen Menschen die Früchte der Arbeit. Anfängliche Skepsis verwandelt sich dann oft in Zuneigung, Vertrauen und Aufgeschlossenheit für die Menschen und die Einrichtung, in der die Kinder sich rasch positiv entwickeln. Wir gewinnen die Eltern in unseren Programmen für Mütter und Väter mehr über die Möglichkeiten ihrer Kinder, zu lernen und mit uns Förderschritte einzuüben, die auch im häuslichen Bereich umgesetzt werden können. Daneben haben die Menschen einfach auch Zeit für sich, ein gutes Frühstück vorzubereiten und es zu genießen. Zeit, um miteinander zu sprechen, Ausflüge zu machen oder miteinander zu spielen, zu basteln und kreativ zu werden. Die früher erfahrene Ablehnung wegen eines Kindes mit einer Behinderung in der Gesellschaft verwandelt sich bei Lifegate in Aufmerksamkeit, Zuneigung, Verständnis und Ermutigung, die eigenen Gaben zu entdecken und einzubringen und auch andere Eltern zu treffen und im Austausch zu sein. Ein Wendepunkt in der Einstellung vieler Mütter und Väter zu ihren Kindern. Vertrauen und Liebe haben immer eine positive Auswirkung und wenn man im Leben etwas bekommt, kann man auch etwas weitergeben.
Bei Lifegate sind wir für die Menschen unterwegs und wollen auch in unserem bescheidenen Rahmen helfen, dass Palästinenser und Israelis respektvoll und auf Augenhöhe zum Wohle unserer Kinder beitragen. Ein Teil der medizinischen Arbeit findet in israelischen Fachkrankenhäusern statt, Begegnungen mit israelischen Kolleginnen und Kollegen zu Fortbildungsthemen sind immer herzlich willkommen. Wir spielen mit israelischen Freunden Rollstuhlbasketball und die Teams sind gemischt. Freizeiten unserer Jugendlichen mit Jugendlichen aus israelischen Einrichtungen gehören zu unserem Jahresprogramm. Viele Menschen haben sich sehr schlimm im lang andauernden Konflikt verletzt - körperlich und seelisch. Diese Wunden können heilen, wenn man neue, gute Erfahrungen miteinander macht und versöhnend und vergebend unterwegs sein kann. Hier wollen wir Hände reichen, Brücken bauen und immer die extra Meile gehen.
Toleen ist ein sechs Jahre altes Mädchen und stammt aus dem palästinensischen Dorf Sair bei Hebron. Schon vor Jahren arbeiteten wir mit einem ambulanten Therapeutenteam in Häusern und Familien in diesem Ort, wo viele Menschen miteinander verwandt sind. Toleen hat eine Zwillingsschwester, die sich normal entwickelte und eine jüngere, vierjährige Schwester, ebenfalls ohne Auffälligkeiten. Die Eltern sind Verwandte ersten Grades. Toleens Vater arbeitet in Israel und hat damit ein stabiles Einkommen und ihre Mutter ist gelernte Friseurin und kann diesen Beruf auch zuhause praktizieren. Toleen kam als Rollstuhlfahrerin zu uns, diagnostiziert mit psychomotorischer Entwicklungsverzögerung. Auf Grund ihrer mentalen Situation konnte sie keine - auch keine leichteren - Aufgaben ausführen. Sie nahm kein Spielzeug und auch keinerlei Nahrungsmittel in die Hand. Sie lebte in ihrer eigenen verschlossenen Welt, nahm keinen Kontakt zu anderen Kindern oder unseren Teammitgliedern auf. Sie saß in ihrem Rollstuhl und biss in ein Spielzeug oder weinte. Sie weigerte sich, für irgendeine Aktivität ihre Hände zu benutzen und hatte die Finger die ganze Zeit im Mund. Wir begannen in den verschiedenen Therapieeinheiten, an diesem Verhalten zu arbeiten.
In der Ergotherapie, bei den Physiotherapeutinnen, im Therapiewasserbecken und bei den Sprachtherapeutinnen wurde das kleine Mädchen Schritt für Schritt an praktische Aktivitäten herangeführt und mit Kommunikationsmöglichkeiten vertraut gemacht. Nach einigen Wochen stieß sie die Spielzeuge nicht mehr von sich, sondern begann, sie mit beiden Händen zu betasten und festzuhalten.
Toleen reichte anschließend Spielzeuge weiter. Sie begann, auf kleine Aufforderungen zu reagieren: “Gib mir dieses Spielzeug, nimm den kleinen Löffel.“ Und sie lernte sogar, mit einem Löffel eigenständig etwas zu essen. Auch im Sozialverhalten machte sie enorme Fortschritte. Sie entwickelte Augenkontakt zu unseren Therapeuten und anderen Kindern. Sie lacht heute mit den anderen Kindern und versucht sich auszudrücken.
Ihre Körperfunktionen bekamen durch den Aufbau der Muskulatur in der Physiotherapie mehr Stabilität und sie kann ihre Sitzposition gut ausbalancieren. Toleen begann, mit Hilfe eines Stehständers zu stehen. In einem „Gait Trainer“ (eine Gehhilfe, in der man das Kind fixieren und mit der es nicht stürzen oder umfallen kann) lernt Toleen nun zu laufen. Sie kommt mit kleinen, aber stetigen Förderschritten immer mehr in unserer heutigen Welt an. Ihre Eltern freuen sich und wir sind dankbar, dass es immer eine Hoffnung gibt und dann einen Weg. Nun wollen wir an der Sprache und verbalen Kommunikation arbeiten und vielleicht erleben wir auch hier ein kleines Wunder, es wäre sicherlich nicht das erste oder letzte.
Meldung erstellt am: 20. Juli 2023