Peter Zilles macht sich Gedanken zum Thema Armut
Jeden Monat schreiben Projektträger zu einem bestimmten Stichwort. Im November erzählt Peter Zilles, Vorsitzender der Tafel Bayern e.V., von einer Begegnung, die zehn Jahre zurückliegt, und macht sich Gedanken zum Thema Armut.
Das Engagement bei einer Tafel ist begleitet von eindrucksvollen Begegnungen mit Menschen, die - von Armut betroffen - Hilfe bei der Tafel suchen. Die meisten dieser Begegnungen mit Tafelkunden oder -gästen sind angenehm und oft berührend. So berührend, dass ich noch nach Jahren immer mal wieder an diese Momente erinnert werde.
Ein solcher Moment ereignete sich an einem Dienstagnachmittag vor fast zehn Jahren, als wie immer die Registrierung von Neukunden auf dem Dienstplan stand.
Die Tür des Tafelladens öffnete sich und herein kam humpelnd ein junger Mann von Anfang dreißig, begleitet von seinen etwa sechsjährigen Zwillingssöhnen.
Wie immer nahmen der Ladenleiter und ich Namen, Anzahl der Personen, die Adresse und den Nachweis der Bedürftigkeit auf und füllten gemeinsam den Kundenantrag aus.
Oftmals kommt man darüber ins Gespräch, so auch hier, und wir erfuhren, dass der junge Mann durch einen Arbeitsunfall nicht mehr in seinem Beruf arbeiten konnte und auch andere Arbeit aufgrund der Schwere der Verletzung (noch) nicht möglich war.
Das alles brachte die fünfköpfige Familie in arge finanzielle Bedrängnis und der Gang zur Tafel sollte die Not etwas lindern.
Normalerweise ist ein Neukunde nach Antragstellung ab dem nächsten Ausgabetag berechtigt, bei der Tafel einzukaufen.
Auf unsere Ansage: „Sie können dann morgen zur Ausgabe kommen und starten als Neukunde gleich zu Beginn mit dem Einkauf,“ antwortete der Vater bedrückt: „Leider geht das nicht, wir kommen aus dem Landkreis und haben mit unserem letzten Geld eben noch ein paar Liter getankt. Leider reicht das Benzin nicht, um morgen nochmal hierher zu kommen.“
Normalerweise sind die Lebensmittel am Vortag der Ausgabe noch nicht in die Regale des Tafelladens eingeräumt, aber vieles ist schon von den Geschäften aus der Umgebung eingesammelt.
Daher bat ich unseren Ladenleiter: „Lass uns ausnahmsweise vorab für die Familie Lebensmittel zusammenpacken, damit wieder etwas im Kühlschrank ist.“ Gesagt, getan. Gemeinsam mit Vater und Kindern gingen wir die Ausgabestationen ab und begannen mit Brot und Backwaren, aus dem Lager holten wir einiges an Gemüse und Obst. Weiter ging es zur Trockenware, hier legten wir Nudeln, Mehl, Zucker und andere Lebensmittel in die Tüten.
Abschließend kamen wir zu den Kühlregalen. Diese waren - wie immer, wenn keine Lebensmittelausgabe läuft - mit den Jalousien abgedeckt, damit nicht unnötig Energie verbraucht wird.
In diese Kühlungen werden alle Lebensmittel eingestellt, die gekühlt werden, u.a. Milch, Joghurt, Butter, Käse und weitere Milchprodukte. Hinzu kommen Fisch-, Fleisch- und andere Salate, Fertiggerichte und nicht zuletzt auch Wurst.
Als ich nun die Jalousie des einen Kühlregals nach oben schnalzen ließ, standen die beiden Buben neben mir und einer rief: „Oh, Papa, schau mal Wurst!“
Der Gesichtsausdruck und die Inbrunst mit welcher der kleine Kerl das äußerte, sagten mir, dass Wurst schon lange nicht mehr auf dem Speiseplan der Familie gestanden hatte.
Dieser Ausruf sorgte und sorgt bei mir immer noch für Gänsehaut.
Selbstverständlich wanderte neben den bereits eingepackten Lebensmitteln auch eine ordentliche Portion an Wurst - besonders die kindgerechte mit dem Gesicht - in die Taschen der Familie.
Alle Drei bedankten sich überschwänglich für die Hilfe, die ihnen für ein paar Tage den Tisch besonders reichlich decken würde.
Solche Momente, die viele der Tafelhelferinnen und -helfer immer mal erleben, zeigen, wofür und vor allem für wen wir alle unsere Tafelarbeit leisten und bleiben unvergesslich.
Meldung erstellt am: 21. November 2022