Isabelle Müller macht sich Gedanken zum Thema Zugang zu Bildung
Jeden Monat schreiben Projektträger zu einem bestimmten Stichwort. Im August macht sich Isabelle Müller, Gründerin der LOAN-Stiftung, Gedanken zum Thema "Zugang zu Bildung".
Blicken wir mit etwas Abstand auf unser Leben zurück, können wir sagen, ob wir eine glückliche Kindheit hatten oder nicht. Wie viel Glück wir selbst im Leben haben, mag dennoch nicht jedem bewusst sein. Denn der erste Schicksalsschlag eines Menschen ereignet sich bereits bei seiner Geburt. Abgesehen davon, ob ein Kind gesund auf die Welt kommt oder nicht, wird sein Geburtsort in der Regel über seine Zukunftschancen entscheiden. Nach wie vor gibt es enorme Unterschiede zwischen Industriestaaten, Entwicklungsländern und Schwellenländern.
Als meine Mutter Dau Thi Cuc, die sich „Loan“ nannte, 1929 in Annam (im heutigen Vietnam) auf die Welt kam, schien ihr Schicksal schon besiegelt. Als Mädchen durfte sie aufgrund ihres Geschlechts, ihrer ethnischen Herkunft und wirtschaftlichen Verhältnisse keine Schule besuchen. Stattdessen sollte sie im Alter von 11 Jahren gegen zwei Schweine und ein Stück Ackerland verkauft werden und eine Familie mit einem fremden Mann gründen. Diesem grausamen Schicksal konnte sie entkommen, indem sie flüchtete, um so ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Seit 2011 wird Vietnam nicht mehr als Entwicklungsland, sondern als Schwellenland eingestuft. Es besteht mittlerweile eine generelle Schulpflicht. Aber aufgrund der schwierigen geographischen Lage, haben Kinder ethnischer Minderheiten immer noch einen erschwerten Zugang zu Bildung. Circa 90% dieser Minderheiten finden sich im hohen Norden und leben vom Tee - oder Reisanbau, weit verteilt in abgelegenen, bergigen Gebieten.
Als die LOAN Stiftung in 2016 ihre Arbeit aufnahm, fuhren wir gezielt an der chinesischen Grenze entlang in die ärmsten Provinzen Vietnams. Überall bot sich ein ähnliches Bild. Die Kinder, meist in viel zu dünner Kleidung und barfüßig in Plastiksandalen, mussten unglaubliche Hürden auf sich nehmen, um ihre Schuleinrichtung zu Fuß zu erreichen. Kilometerweite, gefährliche Wege sind heute noch an der Tagesordnung. Bei jeder Witterung gehen diese Kinder jeder Altersstufe die tägliche Strecke - ein Grund für einige von ihnen, irgendwann für immer der Schule fern und so ungebildet zu bleiben.
Bei extrem schlechtem Wetter oder bei zu weiten Schulwegen dürfen Grundschüler/innen unter der Woche auf dem Schulgelände bleiben, vorausgesetzt, die Schuleinrichtung hat eine Küche, eine Kantine, sanitäre Anlagen und auch wetterfeste Übernachtungsmöglichkeiten. Viele Kinder nehmen das Angebot an, allerdings werden sie oft aufgrund mangelnder Räumlichkeiten in Klassenzimmern oder sogar in der Küche untergebracht. Wenn sie Glück haben, können sie zusammengedrückt wie Sardinen in viel zu engen Schlafräumen übernachten. Das zu sehen erdet uns jedes Mal.
Um diesen Kindern eine bessere Kindheit zu schenken - wenn möglich nicht nur geprägt durch Kinderarbeit -, errichten wir für sie u.a. Internate mit der nötigen, nachhaltigen Infrastruktur und Betreuung. Mit der Unterstützung von Sternstunden konnten in den letzten Jahren bereits Hunderte Kinder davon profitieren. In sicheren, wetterfesten Gebäuden bekommen sie nicht nur warme Mahlzeiten und Hausaufgabenbetreuung. Auch versorgen wir sie mit Lernmaterialien und altersgerechten Büchern. So werden seit 2021 bei jeder Bauübergabe 500-Bücher-Pakete mit überreicht, damit die Schule automatisch über eine kleine Bibliothek verfügt.
Das Glück und die Dankbarkeit in den Augen der Kinder, dadurch etwas mehr von unserer großen Welt zu erfahren, sprechen für sich selbst und bleiben unsere stetige Motivation.
Meldung erstellt am: 24. August 2022